Gelebt werden

Von Karl May (1842 – 1912) stammt das Zitat: „Es gibt Menschen, die nicht leben, sondern gelebt werden.“ Wie recht er hatte. Menschen, die emotional erpresst werden und nicht selbst über ihr Leben bestimmen können, fallen exakt in diese Kategorie.

Verhaltensmuster aus der Kindheit

Wer sich gegen emotionale Erpressung nicht wehren kann, verfügt garantiert über Altlasten aus der Kindheit.

Der Teufelskreis aus mangelndem Selbstvertrauen, Schuldgefühlen, falschem Pflichtbewusstsein, Angst vor Liebesentzug und Ohnmacht nimmt in der Regel im Elternhaus seinen Anfang. Die Mitmenschen, die später im erwachsenen Alter emotionale Erpressung anwenden, bleiben häufig die gleichen oder es kommen noch neue hinzu. Der Ehepartner und die Kinder haben ein leichtes Spiel, wenn jemand auf emotionale Erpressung wie gewünscht reagiert. Vielleicht vollzieht sich dieses Verhalten sogar vollkommen unbewusst. Jeder Mensch bevorzugt für gewöhnlich den bequemen Weg. Lässt sich mit emotionaler Erpressung auf einfache Weise besonders viel erreichen, weshalb also darauf verzichten?

Gelebt werden: Wer ausschließlich nach der Pfeife anderer Menschen tanzt, versagt sich ein eigenes Leben.

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Gelebt werden ähnelt einer Spielfigur, die vorwärts und rückwärts geschoben wird.

Gelebt werden bedeutet, zugunsten anderer auf eigene Interessen verzichten. „Mach dies, mach das“ – „Es wäre doch schön, wenn….,“ –  „Wenn Du wegfährst, bin ich wieder alleine.“ – „Ein Kind ist das seiner Mutter schuldig“ – „Andere sind immer für ihre Eltern da.“ – „Es ist Deine Pflicht…….“

So wie vorstehend oder ähnlich lauten die Aufforderungen, oder, treffender ausgedrückt, die Kommandos, die unverblümt und direkt oder in anderen Fällen in schöne Worte gebettet oder als Appell an das schlechte Gewissen erfolgen. Widerspruch unerwünscht! Falls doch ein Veto zustande kommt, wird es einfach mit Schmollen oder Drohungen aus dem Weg geräumt.

 Wenn jemand nur noch für andere funktioniert

Im schlimmsten Fall existiert überhaupt kein eigenes Leben mehr und es handelt es sich tatsächlich um „gelebt werden“. Nicht die eigene Person bestimmt, sondern ausschließlich die Menschen im direkten Umfeld, wie in nachfolgenden Beispielen:

  • Die Mutter setzt mit Heulattacken und den ständigen Hinweisen, was sie schon alles getan hat, ihren Willen durch.
  • Der Vater verschafft sich mit seinen Appellen ans Pflichtgefühl Gehör.
  • Der Ehemann erwartet, dass seine Frau schnell nachgibt, wenn er einen etwas lauteren Ton anschlägt.
  • Und die Kinder wissen ganz genau, wie sie bei der Mutter ein schlechtes Gewissen erzeugen: Indem sie ihr direkt oder indirekt vermitteln, sie sei keine gute Mutter.

Die Sucht, geliebt zu werden

Zu dem schlechten Gewissen, gesellt sich in aller Regel ein unnatürlich großes Bedürfnis nach Liebe. Wiederum handelt es sich hier um ein in der Kindheit antrainiertes Denkmuster. Jedes Kind möchte geliebt werden und zwar ohne Wenn und Aber. Ein Kind, dass sich der Liebe seiner Eltern nicht sicher sein kann, tut alles, damit es geliebt wird. War die elterliche Zuneigung an Bedingungen geknüpft, meint die betreffende Person auch später noch, dass Liebe vom persönlichen Verhalten abhängt. Mehr noch, es wird, so wie in der Kindheit, regelrechtes um Liebe gebuhlt. Dieses Verhalten nutzen die „lieben Mitmenschen“ leider schamlos aus. Aus Angst, nicht mehr geliebt zu werden, werden sämtliche Forderungen erfüllt. Die Denkmuster, die meist automatisch ablaufen, lauten in etwa:

  • Widersetze ich mich meiner Mutter, gibt es wieder eine Auseinandersetzung. Weil ich keinen Streit ertragen kann, gebe ich lieber nach.
  • Ich muss mich meinem Vater gegenüber erkenntlich zeigen, sonst wendet er sich von mir ab.
  • Wenn mein Mann mit mir schreit, habe ich Angst, dass er mich nicht mehr liebt. Deshalb muss ich alles dafür tun, dass dieser Fall nicht eintritt.
  • Nur die guten Mütter werden von ihren Kinder geliebt. Bin ich eine schlechte Mutter, hassen mich meine Kinder.

Leben oder gelebt werden? Das ist hier die Frage!

Wahre Liebe stellt keine Bedingungen und bezieht sich primär auf die Person und nicht auf ihr Verhalten. Ein angemessener Respekt innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen gestattet selbst gewünschte Eigeninitiativen. Gehen die Meinungen allzu stark auseinander, bedarf es Kompromisse, mit denen beide Parteien zufrieden sind. Es kann nicht sein, dass eine Person über eine andere bestimmt, egal ob es sich um eine Partnerschaft oder um das Verhältnis zwischen Eltern und erwachsenen Kindern handelt.

Jeder Mensch hat das Recht auf sein eigenes, selbstbestimmtes Leben.